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Publicly Available Published by De Gruyter March 8, 2022

„Wir wissen in Deutschland vieles nicht, was wir wissen sollten“

Ein Gespräch über die unzureichende Verfügbarkeit von Daten für die Forschung, die Minijob-Falle und die Vererbbarkeit von Sozialhilfeabhängigkeit in Deutschland

  • Regina T. Riphahn EMAIL logo

PWP: Frau Professor Riphahn, Sie setzen sich seit Jahren für einen besseren Zugang zu forschungsrelevanten Daten ein. Auf welchen Feldern der ökonomischen Forschung macht sich die unzureichende Verfügbarkeit von Daten am stärksten bemerkbar?

Riphahn: Es gibt einige Forschungsfelder, auf denen die Datenverfügbarkeit verbessert werden sollte: Es fehlen Daten, die erlauben, die Erwartungsbildung von Unternehmen und Haushalten zu erforschen. Wir wissen wenig über Verträge im Bereich der Immobilienwirtschaft. Daten für kriminologische Analysen könnten reichhaltiger und systematischer bereitgestellt werden. Die Daten der Krankenversicherung könnten viele Forschungsbereiche beflügeln. Es fehlt ein Zugang zu den Daten der Steuerverwaltung. Informationen zu Haushaltsstrukturen in Verbindung mit vorliegenden Daten der Sozialversicherungen wären für viele Forschungsbereiche wichtig. Aus meiner Sicht ist aber der Datenmangel im Bereich der empirischen Bildungsforschung besonders gravierend.

PWP: Wie stellt sich die Situation dort dar?

Riphahn: Die einzelnen Bundesländer führen ja immer wieder Bildungsreformen durch. Prinzipiell wäre es nützlich, wenn diese Reformen durch Evaluationen in jedem Bundesland begleitet würden. Eine verlässliche Evaluation setzt allerdings voraus, dass im Land selbst zufällige Kontrollgruppen gebildet würden, die von den Reformen ausgenommen werden. Mittelfristig könnte man dann den Erfolg einer Reform durch einen Vergleich der davon betroffenen Bevölkerung mit der Kontrollgruppenbevölkerung bewerten. Da solche Kontrollgruppen aber meist fehlen, bietet es sich an, die Reformen als natürliche Experimente zu betrachten und statt der Kontrollgruppe die Entwicklung in anderen Bundesländern zu betrachten, wo die Reform ja ebenfalls nicht stattfand. Der Bundesländervergleich ergibt ein für viele Fälle überzeugendes Forschungsdesign. Allerdings setzt das voraus, dass relevante Maße des Reformerfolgs wie beispielsweise zu Kompetenzen von Schülern und Schülerinnen vorliegen und genutzt werden können. Am Zugang zu bundeslandspezifischen Daten mangelt es jedoch oft.

PWP: Welche Daten wären hier besonders nützlich?

Riphahn: Man könnte viel aus den Schuleingangsuntersuchungen in den Ländern lernen. Allerdings werden diese Daten nicht in der Breite für die Forschung verfügbar gemacht. Es gibt gelegentlich Bundesländer, die ihre Erhebungen einzelnen Forschenden zugänglich machen, aber das ist nicht der Regelfall. Im Gegenteil werden Bemühungen aus der Wissenschaft frustriert. Ich habe einen Fall erlebt, bei dem ein Forscher durch die Verwaltung zweier Bundesländer alle möglichen Steine in den Weg gelegt bekam und als Vorbedingung zum Datenzugang immer neue und noch detailliertere Projektbeschreibungen abliefern musste. Am Ende wurden die Daten allen Erklärungen, Selbstverpflichtungen und Datenschutzmaßnahmen zum Trotz von einem Bundesland gar nicht und vom anderen bloß für einen 14-tägigen Bearbeitungszeitraum ausschließlich zur Nutzung vor Ort zur Verfügung gestellt. Damit ließ sich dann natürlich nicht arbeiten.

PWP: Das grenzt ja an Schikane.

Riphahn: Das Problem ist, dass Bundesländer kein originäres Interesse an einer objektiven und ergebnisoffenen wissenschaftlichen Evaluation ihrer Bildungspolitik haben. Zu gewinnen gibt es dadurch für sie relativ wenig und Wählerstimmen verliert man schnell. „Yardstick competition“ und föderaler Wettbewerb führen in der Praxis nicht dazu, dass überprüfbare Evidenz vorgelegt wird. Dazu hat sich 2016 der Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium geäußert: „Allerdings behindern die Kultusbehörden seit vielen Jahren die systematische Erforschung von bundeslandspezifischen Bildungsinitiativen und die Bereitstellung von Vergleichsgrößen, indem sie den Zugang zu relevanten Informationen verweigern [...].“[1] Es gab vor einigen Jahren im Zusammenhang mit dem nationalen Bildungspanel eine Auseinandersetzung um die Frage, ob feste Ländereffekte berechnet werden dürfen; das ist in der Empirie zwar übliche Praxis, wurde Forschenden aber nur unter Auflagen gestattet. Leider ist die Bildungsforschung politisch befrachtet. Das führt dazu, dass wir in Deutschland vieles nicht wissen, was wir wissen sollten und auch sehr gut erforschen könnten, weil es die Daten ja schon längst gibt.

PWP: Heißt das, wir könnten, wenn die Bundesländer nur mitzögen, auch mehr darüber wissen, was Homeschooling, Wechselunterricht etc. in der Pandemie für Schulkinder bedeutet haben, welche Lehrformate besser funktioniert haben als andere und wo sich für diese Generation schwerwiegende Wissenslücken aufgetan haben? Das ist ja ein sehr wichtiges und auch emotionales Thema.

Riphahn: So ist es. Sowohl die Stellungnahmen der Leopoldina[2] als auch der ständigen wissenschaftlichen Kommission der KMK[3] benennen das Fehlen von hinreichenden Datengrundlagen gerade in der Pandemie. Abgesehen vom Themenfeld Bildung ist das Themenfeld Gesundheit ein zweiter Bereich, in dem besonders viel zu gewinnen wäre, wenn existierende Daten verfügbar gemacht würden. Die Krankenversicherung steht hier tief im Schatten anderer Sozialversicherungsträger: Die deutsche Rentenversicherung macht seit vielen Jahren in vorbildlicher Weise über ihr Forschungsdatenzentrum (FDZ) Daten für die Wissenschaft zugänglich. Internationaler Vorreiter ist ebenso das Forschungsdatenzentrum der Bundesagentur für Arbeit im Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg; dieses Forschungsdatenzentrum bereitet Daten aus den Registern der Arbeitslosenver

sicherung für die Forschung auf und macht sie zugänglich. Das beflügelt seit vielen Jahren die Forschung zum deutschen Arbeitsmarkt (auch durch internationale Forschende) und erlaubt uns, viel zu lernen. Daneben gibt es die Krankenversicherungsdaten. Der Zugang dazu unterliegt zahlreichen Hürden, sofern er überhaupt möglich ist. Zwar wurden 2019 vielversprechende gesetzliche Änderungen verabschiedet, aber nach meiner Kenntnis gibt es immernoch kein akkreditiertes Forschungsdatenzentrum, das Forschenden bei Datenbedarfen im Themenfeld der Gesetzlichen Krankenversicherung professionell zur Seite steht. Hier gibt es einen erheblichen Rückstand aufzuholen. Die Forschung zu Gesundheit, Prävention und Versorgung könnte einen massiven Aufschwung nehmen, wenn die Daten bereitgestellt würden. Bislang gab es Zugang nur zu einem eng beschränkten Datenkranz und das war finanziell teuer, kompliziert und mühsam.

PWP: Wieso? Liegt das – analog zu den Ländern und der Bildungspolitik – an konträren Interessen, begründet vielleicht in der Konkurrenz zwischen den Kassen? Wollen sie sich nicht in die Karten blicken lassen und mauern deshalb?

Riphahn: Die Struktur der Versicherungsanbieter ist sicher ein wichtiger Faktor. Dabei geht es bei den Daten, die für die Forschung interessant sind, gar nicht unbedingt um Fragestellungen, die das Geschäftsgebaren der Kassen selbst betreffen. Es geht zum Beispiel um die Häufigkeit und die Wirksamkeit von bestimmten Behandlungen. In diesem Zusammenhang erleben wir auch Dinge wie den Vorgang beim Bremer Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS), das sich gegen Vorgaben des Datenschutzes zur Wehr setzen musste, die eigenen Daten nach zehn Jahren zu löschen. Wenn man langfristige Versorgungsforschung betreiben will, braucht man langfristigen Datenzugang. Da hat der Datenschutz oft gegensätzliche Vorstellungen und verhängt Löschungsauflagen. Insofern können Datenschutzmechanismen die Forschung massiv behindern. Meine Hoffnung ist, dass wir mit dem wissenschaftsnahen Gesundheitsminister Karl Lauterbach beim Datenzugang für die Forschung weiter vorankommen; sein Vorgänger, Jens Spahn, hat schon wichtige Grundlagen gelegt.

PWP: Um in diesem Zusammenhang noch einmal auf Corona zurückzukommen: Deutschland ist schon in der Erhebung von Daten zur Ausbreitung des Virus und der Betroffenheit der Menschen von der Pandemie nicht gerade übereifrig gewesen, nicht wahr?

Riphahn: Da haben wir von Anfang an zu klein gedacht und sollten von anderen Ländern lernen. Die Briten zum Beispiel haben frühzeitig in großem Umfang Daten erhoben. Es gab und gibt in Deutschland viele Initiativen aus der Wissenschaft, beispielsweise beim Sozio-oekonomischen Panel (SOEP). Eigentlich hätte man eine gesonderte Erhebung gebraucht, die für Deutschland repräsentativ und mit großen Stichproben die Pandemie verfolgt. Aber man ist einen anderen Weg gegangen.[4] Darüber hinaus haben wir erhebliche Datenlücken auch hinsichtlich der amtlichen Daten zum Gesundheitswesen. Es fehlen beispielsweise aktuelle und verlässliche Angaben zu Impfquoten und Hospitalisierungsraten. Für ein hochentwickeltes Land wie Deutschland ist das schwer zu erklären.

PWP: Es ist ja ein Jammer – es geschehen jeden Tag Dinge, die uns extrem wichtige Erkenntnisse liefern können, wenn wir sie empirisch untersuchen, aber keiner hält sie fest?

Riphahn: Ja, da gibt es einiges Verbesserungspotenzial. Dabei spielt auch die Vernachlässigung der Gesundheitsämter und ihrer Ausstattung eine Rolle. Es ist hinderlich, dass nicht alle mit den gleichen Verfahren arbeiten, so dass das Robert-Koch-Institut im Ergebnis kaum verlässliche Informationen einsammeln kann. Wir haben uns in einer Leopoldina-Stellungnahme unter anderem mit diesem Problem beschäftigt.[5] Es gibt viele Defizite, die schon allein für die politische Steuerung zu beheben wären, und da reden wir noch nicht vom Bedarf der Forschung.

PWP: Was nun aber die Forschung angeht – welche Rolle spielt denn der Datenschutz dabei, dass Deutschland in der Bereitstellung von Daten für die Wissenschaft vergleichsweise schlecht dasteht?

Riphahn: Auch in Bezug auf den Datenschutz könnte Deutschland viel von den europäischen Nachbarn lernen. Mit der EU-Datenschutzgrundverordnung haben wir zwar alle die gleichen Regeln, leben aber trotzdem in unterschiedlichen Welten, was die Datenverfügbarkeit für die Forschung angeht. In Deutschland ist vieles komplizierter als in anderen Ländern. Wenn man zum Beispiel bestimmte einzelne Variablen aus dem Mikrozensus in der empirischen Analyse nutzen möchte, müssen zuvor die zuständigen Datenschützer aller 16 Bundesländer jeweils einzeln ihr Einverständnis zu diesem Vorhaben geben. Das ist in anderen EU-Mitgliedsländern effizienter geregelt. In der Folge unterbleibt viel gute Forschung für Deutschland. Die Forschenden nutzen dann lieber Daten aus anderen Ländern, die – obwohl sie dem gleichen Rechtsrahmen unterliegen – einfacher zugänglich sind.

PWP: Was steckt dahinter?

Riphahn: Die grundsätzliche Einstellung, mit der die öffentliche Hand der Wissenschaft begegnet, unterscheidet sich stark von Land zu Land. Ich habe oft den Eindruck, dass es in Deutschland eine Kultur des Misstrauens gegenüber der Forschung gibt, ganz anders als beispielsweise in der Schweiz. Als ich von 2001 bis 2005 in Basel lehrte, konnte ich gegen ein Entgelt problemlos den gesamten Zensus nutzen. Ich musste unterschreiben, dass ich die Daten sorgfältig bearbeite und nichts nach außen gebe, was nicht nach außen gehört; ansonsten drohten mir strafrechtliche Verfahren und der Entzug des Datenzugangs auf Lebenszeit. Das war’s. So kann man es auch machen. Stattdessen erleben wir in Deutschland komplexe Verwaltungsakte, bei denen Forschende wie potenziell Kriminelle behandelt werden. Die deutschen Regelungen sind oft so vorsichtig verfasst, dass viele Dinge nicht möglich sind, die wir in der Forschung brauchen und die vernünftigerweise auch machbar sein sollten. Es geht in der Wissenschaft ja nicht darum, sensible Individualdaten auszuspionieren, das interessiert niemanden. Es geht um Erkenntnis, die allen nützt. Dazu muss man beispielsweise existierende Unternehmensdaten zusammenspielen, um sie sinnvoll auszuwerten. Doch das ist aufgrund gesetzlicher Regelungen oft nicht möglich. Dafür gibt es keine überzeugende Rechtfertigung. Ich bin aber zuversichtlich, dass eine vertiefte Diskussion mit der Politik noch manches bewegen kann.

PWP: Sehen Sie dazu tatsächlich die Bereitschaft?

Riphahn: Durchaus. Die letzte Bundesregierung hatte eine Datenstrategie entwickelt, in der viele Vorschläge aus den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften aufgegriffen sind.[6] Die Planungen für deren Umsetzung waren vor der Bundestagswahl schon weit gediehen. Unsere Gespräche mit den Ministerien – Wirtschaft, Finanzen und Inneres – haben uns gezeigt, dass man da nicht auf taube Ohren stößt. Es sollten Forschungsdatengesetze gemacht werden, und es war geplant, ein neues Institut für Steuerdaten einzurichten. Jetzt ist abzuwarten, wie sich das unter der neuen Bundesregierung weiter entwickelt. Immerhin hat die Ampelkoalition ihren Willen, die Dinge zu verbessern, im Koalitionsvertrag ausdrücklich bekundet. Sie will die Dateninfrastruktur fördern. Auch der Zugang der Forschung zu Gesundheitsdaten wird im Koalitionsvertrag benannt. Es findet sich darin allerdings auch das Vorhaben, den Datenschutz zu stärken. Was das dann insgesamt für die Forschung bedeutet, ist noch offen. Aber klar ist: Wir haben in Deutschland eine Grundstruktur, die für die Wissenschaft nicht förderlich ist, und es braucht einen kraftvollen gemeinsamen Impuls, um Fortschritte zu erzielen. Dass die immer wieder aufgerufenen Datenschutzprobleme prinzipiell lösbar sind, zeigt die beeindruckende Forschungsdateninfrastruktur, die vom Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten und den akkreditierten Forschungsdatenzentren bereits aufgebaut wurde. Aber wir brauchen zusätzlich auch noch gesetzgeberische Maßnahmen.

PWP: Und zwar welche?

Riphahn: Zum einen wären Reformen im Bundesstatistikgesetz hilfreich. Konkret könnte man Treuhänder einsetzen, die Daten zusammenspielen, so dass Forschende dann gar nicht mit sensiblen Individualdaten in Berührung kommen, sondern nur auf das zusammengeführte Resultat zugreifen können. Dieses derzeit in verschiedenen Bereichen verbotene Zusammenführen muss ja nicht von der Wissenschaft selber erledigt werden; das kann sozusagen ein Datennotar übernehmen.

PWP: Wo wäre denn ein solcher Datennotar institutionell idealerweise angesiedelt?

Riphahn: Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten. Naheliegend wäre eine Ansiedlung bei einem Forschungsdatenzentrum, zum Beispiel beim FDZ des Statistischen Bundesamtes oder beim FDZ der Statistischen Ämter der Länder. Dafür braucht man keine neue Organisation. Man müsste nur diesen Zentren deutlich mehr Rechte und Ressourcen zubilligen. Dafür habe ich mich auch gemeinsam mit den Kollegen Rüdiger Bachmann und Andreas Peichl eingesetzt.[7]

PWP: Sehen Sie die wichtigsten Baustellen somit bei der amtlichen Bundesstatistik?

Riphahn: Es gibt viele Baustellen. Zum einen haben wir in Deutschland – neben dem Europarecht – drei verschiedene Quellen für Datenschutzvorschriften. Es gibt Vorschriften im Rahmen des Sozialrechts, im Rahmen der Statistikgesetze, und es gibt das Datenschutzrecht als solches. Das sind drei separate Rechtsrahmen, in denen Anpassungen erforderlich werden. Zum anderen ist für die amtliche Datenbereitstellung nicht nur das Statistische Bundesamt in Wiesbaden zuständig. Auch die Statistischen Landesämter spielen eine wichtige Rolle. Die amtliche Statistik arbeitet im Verbund. Allerdings ist die Kooperation nicht immer perfekt; beispielsweise verweigert sich Bayern zum Teil der Zusammenarbeit und verhindert somit die einfache Bereitstellung bundeseinheitlicher Statistiken. Der Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten hat das immer wieder angesprochen und versucht, das Problem zu lösen. Aber wir sind auf Granit gestoßen, auch zur Frustration der anderen Forschungsdatenzentren. Letztlich muss man Bund und Länder unter einen Hut bringen und gemeinsam mit der Wissenschaft pragmatische Lösungen finden.

PWP: Sie sind designierte Vorsitzende des Vereins für Socialpolitik. Es ist ja noch ein Jahr hin, bis es soweit ist, aber lassen Sie mich trotzdem schon jetzt fragen: Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie sich in Ihrer zweijährigen Amtszeit als Vorsitzende auch um das Thema Datenverfügbarkeit kümmern werden?

Riphahn: Es ist eine große Ehre, für dieses Amt angefragt zu werden und die Chance zu bekommen, im Verein für Socialpolitik mitzuwirken. Und ja, alle Vorsitzenden haben in der Regel ein spezielles Thema, dem sie sich widmen. Ich würde mich gerne auch aus dieser Position heraus für eine verbesserte Datenbereitstellung für die Forschung einsetzen. Das führt mein früheres Engagement im Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten fort und passt gut zum Vereinszweck, der Förderung von Wissenschaft und Forschung.

PWP: Was heißt das praktisch? Wie kann man für eine Wissenschaftseinrichtung wie den Verein für Socialpolitik konkret Datenlobbyismus betreiben, wenn ich es mal salopp so nennen darf?

Riphahn: Zunächst gilt es, die aktuell bestehenden Defizite präzise zu erfassen. Im zweiten Schritt muss man über Lösungsmöglichkeiten nachdenken. Ich kann mir gut vorstellen, als Vorsitzende des Vereins für Socialpolitik kleine Arbeitsgruppen mit Expertinnen und Experten aus bestimmten Themenfeldern zusammenzustellen und dort gemeinsam zu eruieren, wo welcher Datenbedarf besteht. Wir müssen den Bestand erheben und Ziele formulieren, um dann Handlungsoptionen für die Politik zu beschreiben. Ich habe in den letzten Jahren den Eindruck gewonnen, dass sich auf Seiten von Politik und Verwaltung viel bewegt und dass eine Offenheit und Bereitschaft für Fortschritt entstanden ist. Daher bin ich zuversichtlich, dass man etwas bewirken kann.

PWP: Viel Erfolg! Lassen Sie uns als Nächstes über Ihre eigene Forschung sprechen, zunächst über die jüngsten Ergebnisse Ihrer Arbeit zu Mini- und Midijobs – beides Beschäftigungsformen, die eigentlich als Brücke in reguläre Beschäftigung gedacht sind. Ganz ohne Nebenwirkungen sind diese institutionellen Programme nicht, oder?

Riphahn: Nein, keineswegs. Man muss sich erst einmal vor Augen halten, dass Mini- und Midijobs ausgesprochen umfangreiche Programme sind, die von mehr als 7 Millionen Menschen genutzt werden. Grob gerechnet profitiert mehr als ein Sechstel der Erwerbstätigen in Deutschland von den damit verbundenen Subventionen. Im Fall der Minijobs entfallen für die Beschäftigten Einkommensteuer und Sozialversicherungsabgaben; im Fall der Midijobs bezahlen die Beschäftigten Einkommensteuer, aber die Sozialversicherungsabgaben werden subventioniert. Weil die Programme so umfangreich sind, sind auch die Effekte dieser Regelungen weitreichend. Und ein wesentlicher Effekt ist, dass Minijobs in die Minijob-Falle führen: Menschen hängen in oft geringqualifizierten Beschäftigungen fest und es gibt weder Weiterbildung noch Aufstiegsmöglichkeiten.

PWP: Rund 60 Prozent aller Minijobber sind Frauen, nicht wahr?

Riphahn: Ja. Es gibt sehr beeindruckende Grafiken zur Verteilung der Bruttolöhne von Frauen. An der Minijob Verdienstgrenze arbeiteten 600.000 Frauen und im Einkommensbereich unmittelbar darüber weniger als 20.000; das beschreibt die Unwucht, die Verwerfung, die die Minijob-Anreize in der Einkommensverteilung generieren.[8] Die Frauen hängen im Minijob fest und verfolgen vielfach keine normalen Erwerbskarrieren mehr, weil die Kombination von steuerfreiem Minijob und Steuerklasse V das für verheiratete Frauen unattraktiv macht. Im Lebenszyklus ist das für Erwerbseinkommen und Rente nachteilig, darauf weisen auch die Geschlechterforschung und die Gewerkschaften hin.[9] Auch aus der Perspektive der Betriebe mit ihrem Fachkräftebedarf ist das ein Problem: An der Minijob-Schwelle hängen viele für ihre aktuelle Tätigkeit überqualifizierte Fachkräfte fest, verursacht durch einfalsch austariertes Steuer-Transfer-System. Wenn sie einen Partner haben, der sehr gut verdient, so dass sie in Steuerklasse V einen Grenzsteuersatz von 40 Prozent haben,

dann müssen sie (bei zusätzlich 20 Prozent Sozialabgaben) mehr als 1.000 Euro brutto verdienen, um überhaupt mehr als 450 Euro netto herauszubekommen. Damit ist der Sprung im Bruttogehalt, der erforderlich ist, um ein höheres Nettogehalt als im Minijob zu erzielen, abschreckend groß. Die Menschen bleiben an der Minijob-Verdienstgrenze hängen. Damit schaffen diese Subventionen erhebliche Verwerfungen.

PWP: Das heißt, mit der erhofften Brückenfunktion ist es nicht weit her?

Riphahn: Eine breite, funktionierende Brücke zwischen Arbeitslosigkeit und Beschäftigung sind die Minijobs nach allem, was die Forschung ergeben hat, nicht. Auch durch die gegenwärtigen Anrechnungsregeln im Arbeitslosengeld II (Alg II) werden die Beziehenden in kleine Beschäftigungsverhältnisse gedrängt: Beim Alg II können sie nur die ersten 100 Euro ungekürzt behalten. Bei darüber hinaus gehenden Verdiensten werden mindestens 80 Prozent abgezogen. Diese Regeln behindern die Ausweitung des Arbeitsangebots. In einer Situation von Fachkräftemangel und Arbeitskräfteknappheit sind die MinijobRegeln und der Transferentzug im Alg II gesamtgesellschaftlich teuer. Deswegen war ich überrascht, dass die Ampelkoalition nicht dem Rat vieler Fachleute folgt, die Minijobs herunterzufahren. Stattdessen will sie sogar noch mehr Menschen in Minijobs bringen und die Geringfügigkeitsgrenze auf 520 Euro anheben. Mit Blick auf die Arbeitsanreize ist das problematisch.

PWP: Können Sie sagen, wie stark der Verdrängungseffekt der Minijobs infolge der falschen Anreize ist?

Riphahn: Ja. Ich habe mir gemeinsam mit Matthias Collischon und Kamila Cygan-Rehm angesehen, ob man in den Daten tatsächlich findet, dass Minijobs sozialversicherungspflichtige Beschäftigung verdrängen.[10] Wir haben zuerst überprüft, was passiert, wenn die Minijobs für Betriebe teurer werden. Sind dann weniger Leute in Minijobs anzutreffen? Das haben wir in der Tat so gefunden. Im zweiten Schritt haben wir geprüft, ob Minijobs reguläre Beschäftigungsverhältnisse substituieren. Auch das konnten wir nicht verwerfen. Insgesamt bestätigt das Ergebnisse aus der Mindestlohnliteratur, wonach die Minijobs weniger attraktiv wurden, als der Mindestlohn stieg; auch hier gab es eine gewisse Substitution. Das zeigt: Es gibt Austauschbeziehungen, die sich an den Arbeitskosten orientieren. Das sollte von der Politik mit bedacht werden.

PWP: Was würden Sie also raten?

Riphahn: Wenn man die Häufung der Beschäftigungsverhältnisse an der Minijob-Grenze vermeiden oder reduzieren möchte, müsste man ihre Subventionierung überdenken. Man könnte die Minijobs generell auf weniger umfangreiche Beschäftigungsverhältnisse begrenzen, beispielsweise bis zu Verdiensten von 200 Euro pro Monat, und die Steuer- und Abgabenpflicht früher einsetzen lassen. Alternativ könnte man gruppenspezifische Regeln einführen und Minijobsubventionen zum Beispiel nur für Studierende und Rentner und Rentnerinnen beibehalten. Ursprünglich war der Zweck der geringfügigen Beschäftigung, den Verwaltungsaufwand von Kleinstarbeitsverhältnissen zu begrenzen, was ja plausibel ist. Zu Fehlanreizen kommt es allerdings dann, wenn Menschen ohne die Minijob-Schwelle mehr arbeiten würden. Hier könnte man (etwa für bestimmte Personengruppen) die Minijob-Grenze deutlich senken und die Midijob-Subvention der Sozialversicherungsbeiträge bereits bei geringeren Verdiensten starten lassen. Das würde zu einem verstärkten Eintritt in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung führen, die dann ohne limitierende Schwellenwerte problemlos ausgedehnt werden kann. Es gibt auch andere Lösungsvorschläge – auf jeden Fall ist es wichtig, auch steuerrechtlich die scharfe Einkommensgrenze zu vermeiden. Parallel wäre es nützlich, die Steuerklassenkombination 3 und 5 für Ehepaare zugunsten der Kombination 4 und 4 aufzugeben. Das ändert zwar am Jahresende nichts am Nettohaushaltseinkommen, macht aber die Erwerbstätigkeit von Zweitverdienenden attraktiver.

PWP: Wenn die Minijobs generell etliche Frauen in Beschäftigungen festhalten, für die sie eigentlich überqualifiziert sind, dann dürfte das in besonderem Maße für Mütter gelten, die oftmals nach einer solchen kleinen Beschäftigung suchen, um sich daheim noch vorrangig um die Kinder kümmern zu können. Zementiert das Instrument damit nicht auch alte Rollenverständnisse in der Gesellschaft?

Riphahn: Ja, auch diese Vermutung finden wir bestätigt. In der Literatur kennen wir die „Motherhood penalty“.[11] Wenn man die Lohnentwicklung von Frauen nach der Geburt ihres Kinders im Vergleich zu den Löhnen der Männer betrachtet, dann sieht man, dass die Frauen auch zehn Jahre später noch systematisch niedrigere Löhne haben. Dieser Abstand ist nirgendwo so groß wie in Deutschland und in Österreich; er liegt bei rund 60 Prozent. In Skandinavien sieht das günstiger aus, da beträgt er 20–30 Prozent.[12] Warum wir in Deutschland so schlecht abschneiden, gilt es zu erklären. Neben gesellschaftlichen Normen spielen sozialpolitische Rahmenbedingungen eine Rolle. Vor unserem kulturellen Hintergrund ist es naheliegend, dass junge Frauen, wenn sie Kinder bekommen, erst einmal weniger Stunden arbeiten wollen und deshalb einen Minijob annehmen. Aber damit gehen sie in die vom Steuer-Transfer-System gestellte Falle, aus der sie später oft nicht mehr herauskommen. Wir finden, dass der Eintritt in einen Minijob nach der Geburt auch 10 Jahre später noch circa 20 Prozent der Motherhood penalty in Deutschland erklärt.[13]

PWP: Nach allem, was Sie gesagt haben – finden Sie es denn dann überhaupt noch grundsätzlich richtig, die geringfügige Beschäftigung zu subventionieren? Sollte man nicht stattdessen besser dafür sorgen, dass die Lohnnebenkosten generell niedriger werden?

Riphahn: Schon bei Einführung der Sozialversicherung in Deutschland gab es das Konzept der geringfügigen Beschäftigung, wie gesagt mit dem Zweck, Bürokratiekosten zu vermeiden. Dieses Argument für Beitragsfreiheit gilt nach wie vor, gerade wenn es um einmalige, kurz laufende oder gering bezahlte Tätigkeiten geht. Aus Sicht der Arbeitgebenden sind Mini-Jobs durch die Pauschalabgaben unmittelbar sogar teurer als reguläre Beschäftigungsverhältnisse; dabei ist die Frage nach der Inzidenz natürlich offen. Angesichts des demographischen Wandels und der finanziellen Schieflage mehrerer Zweige der deutschen Sozialversicherung scheint es mir illusorisch, auf niedrigere Lohnnebenkosten zu hoffen. Man kann aber durchaus die Steuerfreiheit von Mini-Jobs hinterfragen. Für alleinstehende Geringverdiener fiele dieses Einkommen unter den Grundfreibetrag. Bei Ehepaaren ist es neben den Sozialversicherungsabgaben ja gerade die an der Minijobgrenze einsetzende Steuerpflicht, die zu Fehlanreizen führt. Darüber hinaus sind Minijobs, die zusätzlich zu einer Hauptbeschäftigung, also als Nebentätigkeit, ausgeübt werden, steuer- und abgabenfrei. Das ist schwer zu begründen. Also: Minijobs ja, aber anders.

PWP: Wie kann man denn den Menschen helfen, die vom Arbeitsamt von einem kurzfristigen Minijob zum nächsten geschoben werden und dabei nicht mehr, obwohl sie sich das sehr wünschen, in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis finden?

Riphahn: Die Arbeitsämter hatten bislang die Vorgabe, Leistungsberechtigte vorrangig in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln, anstatt ihnen beispielsweise eine Weiterbildung zu finanzieren. Die Ampelkoalition hat sich vorgenommen, diesen sogenannten Vermittlungsvorrang zugunsten eines möglichen Zugangs in Weiterbildung abzuschaffen. Wenn Personen für reguläre Beschäftigungsverhältnisse nicht hinreichend qualifiziert sind, würde diese Anpassung eine Weiterqualifikation erlauben. Hier könnten dann die Berater und Beraterinnen in den Jobcentern die Aufgabe bekommen abzuschätzen, welche Weiterbildungen im Einzelfall erfolgversprechend sind. Das kann für die betroffenen Menschen die Aussicht eröffnen, mit einer Weiterqualifikation in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis einzusteigen.

PWP: Vom Arbeitslosengeld II, umgangssprachlich auch „Hartz IV“ genannt, war schon die Rede. Sie haben gerade untersucht, was an der sozialwissenschaftlichen Befürchtung dran ist, dass sich nicht nur Armut vererbt, sondern auch eine „Hartz-IV-Karriere“.[14] Was haben Sie herausgefunden?

Riphahn: Wir haben erstmals für Deutschland den intergenerationalen Zusammenhang im Mindestsicherungsbezug für Eltern und dem ihrer Kinder in deren Erwachsenenalter untersucht. Es zeigen sich klare Korrelationsmuster: Personen, die in Kindheit und Jugend den Transferbezug im elterlichen Haushalt erlebt haben, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, selbst Transferbeziehende zu werden. Das ist noch nicht überraschend. Wir haben nun aber zusätzlich gefragt, ob über die bloße Korrelation hinaus auch ein kausaler Effekt der Erfahrung des Transferbezugs im Elternhaus zu finden ist. Da lautet die Frage also, ob die Kinder später deshalb Alg II beziehen, weil die Eltern früher Alg II bezogen haben. Wenn man diese Frage mit ja beantwortet, dann hat die Politik der Armutsbekämpfung negative Externalitäten für die heranwachsende Generation. Das wäre wichtig zu wissen. Wenn es einen solchen kausalen Effekt gäbe, bei dem also unabhängig von Armut und Bildung nur durch die Erfahrung im Elternhaus Transferbezug erzeugt wird, gäbe es Reformbedarf. Das Unterstützungssystem soll ja aus Armut befreien und nicht in Armut gefangen halten. Wir haben innerhalb der begrenzten Möglichkeiten unserer Daten keine Evidenz für einen solchen kausalen Effekt gefunden. Das spricht für unsere Mindestsicherungsinstitutionen. Wir haben vor einigen Jahren schon einmal untersucht, ob es in unserem Mindestsicherungssystem „Klebeeffekte“ gibt, also ob der Sozialhilfebezug in einem Jahr kausal dazu führt, dass man auch im nächsten Jahr Sozialhilfe bezieht – und auch einen solcher Effekt konnten wir nicht nachweisen.[15]

PWP: Das ist ja beruhigend.

Riphahn: Ja, das Ergebnis bedeutet, dass das Mindestsicherungssystem den Menschen nicht die Chance raubt, ein Leben ohne staatliche Unterstützung zu führen. Dieses Ergebnis findet sich in der internationalen Literatur nicht für alle Länder. Erstaunlicherweise gab es zur Eltern-Kind-Übertragung nur wenige Studien für Deutschland. Die Herausforderung liegt in den Daten: Man muss beide Generationen im Erwachsenenalter beobachten. Das heißt, man braucht langlaufende Haushaltssurveys, in denen man sowohl die Eltern befragt, wenn die Kinder klein sind, als auch die Kinder, wenn sie dann selber erwachsen geworden sind. Früher war das mit dem SOEP noch nicht möglich, und auf der Basis anderer Datensätze können wir Eltern und Kinder nicht verknüpfen. Es ist sinnvoll, diese Untersuchungen später mit umfangreicheren Daten zu replizieren.

PWP: Was wäre denn eine mögliche Intuition gewesen, wenn man einen solchen intergenerationellen Effekt gefunden hätte? Liefe die Transmission dann nicht doch letztlich über Einflüsse wie Intelligenz, Bildung, Armut und Ähnliches, also über jene Merkmale, die Eltern nachweislich auf Kinder übertragen, die Sie bei der Isolation des kausalen Effekts aber ausschließen mussten? Was genau geht da vor sich?

Riphahn: Zunächst haben wir ja geprüft, ob es bei Kontrolle von konstanten Familieneffekten eine solche kausale Übertragung des Transferbezugs überhaupt gibt, was wir verneinen. Ein kausaler Übertragungseffekt könnte aber prinzipiell durch verschiedene Mechanismen erklärt werden. Es könnte zum Beispiel über Informationen laufen; wenn der Zugang beispielsweise zum Sozialhilfebezug von Vorinformationen abhängt, hätten Kinder, die Sozialhilfebezug bei ihren Eltern erlebt haben, einen Informationsvorteil. Sie wüssten, dass man etwas bekommen kann – und wie man das macht. Umgekehrt könnte es sein, dass die Erfahrung dazu führt, dass diesen Kindern Informationen dazu fehlen, wie man am Arbeitsmarkt erfolgreich ist. Ein anderer Mechanismus könnte über eine Diskriminierung laufen, wenn Lehrerinnen und Lehrer oder potentielle Arbeitgebende Kinder anders behandeln, sofern sie wissen, dass diese aus einem Hartz-IV-Haushalt kommen. Welche Mechanismen zutreffen, wäre das Thema von weiterführenden Untersuchungen. Noch fehlen uns aber auch dafür die Daten.

Mit Regina T. Riphahn sprach Karen Horn. Regina T.Riphahn wurde von Max Kratzer fotografiert, Karen Horn von Beatríz Barragán.

Zur Person

Regina T. Riphahn: Sozialpolitik, Arbeitsmarkt, Daten

Karen Horn

Regina Therese Riphahn, 1965 in Köln geboren und aufgewachsen, ging nach dem Abitur am Mädchengymnasium der Erzbischöflichen Ursulinenschule bei der Wahl eines Studienfachs rational und fokussiert vor. Sie besaß ein klares Kriterium: Das Studium sollte sie auf jeden Fall in die Lage versetzen, später ein eigenes Auskommen zu haben. „Das war mir ein Anliegen, zumal damals – Mitte der achtziger Jahre – die Arbeitslosigkeit sehr hoch war.“ Sie lag bei mehr als 9 Prozent. Riphahn schaute sich an der Universität ihrer Heimatstadt um und entschied sich schließlich für die Wirtschaftswissenschaften – auch deshalb, weil dieses Fach, wie sie sagt, die Brücke zu vielen anderen Gebieten schlägt. Weil sie sich für vieles interessierte und verschiedene Studienfächer in Betracht gezogen hatte, kam ihr das entgegen: „Man kann im Rahmen der Wirtschaftswissenschaften auch ein wenig Psychologie, Juristerei, Geographie und Geschichte studieren. Da sind viele Möglichkeiten offen, habe ich mir gedacht.“

Schon früh nahm Regina Riphahn die im Studium gebotenen Möglichkeiten wahr, ins Ausland zu gehen. So ging sie nach dem Vordiplom für ein halbes Jahr nach England, an die University of Sussex. Anschließend wechselte sie für das Hauptstudium der Volkswirtschaftslehre an die Universität Bonn. Nach einem Jahr ergab sich die Gelegenheit zu einem weiteren Auslandsaufenthalt. Von Kommilitonen in Sussex auf das amerikanische Universitätssystem neugierig gemacht, zog es sie diesmal in die Vereinigten Staaten. An der University of Tennessee in Knoxville erwarb sie – als Ergänzung zur Volkswirtschaftslehre – einen Master of Business Administration. Außerdem absolvierte sie Praktika an der chilenischen Zentralbank in Santiago und an der Weltbank in Washington.

Als ihr klar wurde, dass sie auch ohne das deutsche Diplom direkt eine Promotion anschließen konnte, suchte sie sich rasch noch eine Doktorandenstelle in Amerika. Sie landete an der University of North Carolina in Chapel Hill, wo sie auch, wie sie erzählt, ihre „wissenschaftliche Sozialisierung“ in der Ökonometrie erhielt. Sie war am Carolina Population Center angestellt, einem Forschungszentrum zu Bevölkerungsfragen, wo sie schon damals große Datensätze bearbeitete. Daran faszinierte sie, was Zahlen über die wirkliche Welt aussagen können – zum Beispiel wenn es darum geht zu prüfen, ob eine bestimmte Politikmaß

nahme den theoretisch naheliegenden Effekt tatsächlich zeitigt und wie groß dieser ist. Eine bloß technische Arbeit ist das nicht: „Man entwickelt mit der Zeit einen Spürsinn, was sein kann und was nicht.“

Zu dieser Zeit schienen auch die thematischen Weichen gestellt: Alles lief auf die Finanzwirtschaft zu. Schon zu Vordiplomszeiten hatte Regina Riphahn in einer Bank Praktikum gemacht, und in ihrer Dissertation wollte sie sich mit der Frage beschäftigen, ob Fusionen Genossenschaftsbanken mehr Effizienz bringen. „Ich hatte das Thema schon fertig ausgearbeitet, mit Methode und Daten und allem – aber dann habe ich beschlossen, dass mich das eigentlich überhaupt nicht interessiert. Es motivierte mich nicht, zur Profitmaximierung beizutragen“, sagt sie. Also hieß es von vorne anfangen und nach einer neuen Ausrichtung suchen – und zwar nach einer, die auch den Anspruch erfüllte, mit der Forschung einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Riphahn liebäugelte zuerst mit der Entwicklungsökonomik und landete schließlich bei der Sozialpolitik, die bis heute ihr Hauptfeld ist.

„Sozialpolitische Fragestellungen liegen mir am Herzen“, erklärt sie, denn es gehe unmittelbar um das Wohlergehen der Menschen. Zudem sei die empirische Forschung hier gut geeignet, wichtige Erkenntnisse für die Politikgestaltung zu produzieren. Sie schrieb ihre Doktorarbeit über den Bezug von Invaliditätsrenten in Deutschland[16] – auf der Grundlage von Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP). „Gert Wagner hat mir damals drei große Ordner mit SOEP-Fragebögen nach North Carolina geschickt, per Post, für 100 D-Mark. Es war ja die Zeit vor Email.“ Im Jahr 1995 wurde sie promoviert.

Statt die akademische Karriere in Amerika fortzusetzen, entschied sie sich an dieser Weggabelung für eine Heimkehr nach Deutschland, um nicht allzu weit von den Eltern entfernt zu leben, falls diese einmal Unterstützung brauchen sollten. Es bot sich die Chance, wissenschaftliche Assistentin bei Klaus F. Zimmermann an der Ludwig-Maximilians-Universität München zu werden, wo sie sich 1999 mit einer Arbeit über Sozialhilfebezug habilitierte.[17] Rasch folgte die erste Lehrstuhlvertretung und der Ruf auf eine Professur für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftspolitik an der Universität Mainz. Schon nach einem Jahr zog sie weiter an die Universität Basel auf eine volkswirtschaftliche Professur mit dem Schwerpunkt angewandte Ökonometrie. Der nächste Wechsel führte sie 2005 an die Universität Erlangen-Nürnberg. Von 2007 bis 2012 lehrte sie parallel als Gastprofessorin an der Freien Universität Amsterdam. Zusätzlich forschte sie als Gastwissenschaftlerin an der University of California in Berkeley und an der University of Melbourne.

Den in Nürnberg angesiedelten Lehrstuhl für Statistik und empirische Wirtschaftsforschung hat Regina Riphahn bis heute inne. Dort forscht sie auf den Feldern der Sozialpolitik, der Arbeitsmärkte, der Bevölkerungs- und der Bildungsökonomie, zu so breit gefächerten Fragen wie den Mustern des Rentenzugangs, der intergenerationalen Übertragung von Sozialhilfebezug, den Lohnstrukturen in Ostdeutschland, den Arbeitsmarktwirkungen von Elterngeld, Mini- und Midijobs, der Fertilitätswirkung von Kindergeld, der intergenerationellen Bildungsmobilität und den Auswirkungen des Schulgelds in Deutschland.

Sie lehrt vor allem Methoden – „ein spannendes Feld, mit ständig neuen Entwicklungen. Man muss am Ball bleiben, um auf dem neuesten Stand unterrichten zu können“. Aktuell begeistert sie sich für die Impulse, die von der Nutzung des maschinellen Lernens auf die empirische Forschung ausgehen. Mit dieser Methode ließen sich – unter starken Annahmen – die kausalen Effekte von Maßnahmen auf Individuen messen, was ganz neue Chancen für eine bessere Politikgestaltung eröffne. Seit 2005 führt sie zudem das „Bavarian Graduate Program in Economics“, das inzwischen 10 bayerische Universitäten umspannt.

Neben Forschung und Lehre sowie dem Engagement für den wissenschaftlichen Nachwuchs ist Riphahn seit langem auch in der Politikberatung aktiv. „Das sind spannende Aufgaben, in die viel Energie fließt, bei denen man aber auch einiges lernt“, sagt sie. Seit 2007 ist sie Mitglied und derzeit stellvertretende Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats des Bundesministeriums für Wirtschaft. Von 2008 bis 2014 war sie Mitglied des Wissenschaftsrates und wurde Vorsitzende in dessen Wissenschaftlicher Kommission; der Wissenschaftsrat berät Bund und Länder zur Weiterentwicklung von Hochschulen, Wissenschaft und Forschung. Seit 2017 ist Regina Riphahn darüber hinaus Vizepräsidentin der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.

Von 2014 bis 2020 war sie Vorsitzende des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung eingerichteten Rates für Sozial- und Wirtschaftsdaten (RatSWD), der auf eine Verbesserung des Datenzugangs für die Forschung im Einklang mit dem Datenschutz hinarbeitet. Ihr gelang es, den RatSWD in der neu geschaffenen Nationalen Forschungsdateninfrastruktur zu verankern. Auch in der öffentlichen Wahrnehmung hat sie sich über die Jahre als unermüdliche Fürsprecherin der datennutzenden Wissenschaften positioniert, die immer wieder in Erinnerung ruft, dass eine gute Politik gute wissenschaftliche Erkenntnis als Grundlage braucht und diese wiederum gute Daten[18] – und dass Deutschland in dieser Hinsicht bisher nicht sonderlich gut aufgestellt ist.

Im kommenden Jahr wird sich das Portfolio von Regina Riphahns Engagements noch um den Vorsitz des Vereins für Socialpolitik erweitern: Sie ist designierte Nachfolgerin von Georg Weizsäcker in diesem auf zwei Jahre angelegten Amt – „eine große Ehre und eine große Verantwortung.“ Sie will sich auch in dieser Rolle für eine bessere Datenverfügbarkeit einsetzen, der empirischen Forschung und der evidenzbasierten Politikberatung zuliebe.

Online erschienen: 2022-03-08
Erschienen im Druck: 2022-04-06

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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